1.1 »Es kommt darauf an«
Wer von Ihnen schon einmal die Hilfe eines professionellen Beraters in Anspruch genommen hat, ganz egal ob aus der Informationstechnologie, der Unternehmensstrategie oder aus einem juristischen Fachgebiet, der wird ziemlich sicher auch diesen Satz gehört haben: Es kommt darauf an. Bevorzugt als Antwort auf eine scheinbar banale Fragestellung, etwas, von dem man glaubte, dass ein Fachexperte es in Windeseile lösen können sollte. Mit diesem Satz wurde man unwillig eines Besseren belehrt. Es kommt darauf an. Aber worauf denn? Auf zahlreiche Kleinigkeiten, deren Beachtung man selbst nicht als notwendig erachtete und denen der angeheuerte Fachexperte eine fast schon unanständige Wichtigkeit zu geben pflegt. Mit steigender Expertise des Problemlösers schwindet die Einfachheit des Problems, und alles ist irgendwie »komplex«.
Komplexität ist so ein typischer Mode-Begriff, ein Joker im Bullshit-Bingo der modernen Wirtschaft, die Universalerklärung, warum es grundsätzlich länger dauert, teurer wird und am Ende doch nicht ganz den Erwartungen des Kunden entspricht. Ein Reizwort. Und doch ein Wort, das wenig Widerspruch auslöst. Wir haben uns daran gewöhnt, die Welt ist nun mal komplex, und wer das leugnet, hat es nur noch nicht begriffen. Oder ist ein Populist, der bewusst seine Kunden (oder Wähler) für dumm verkaufen möchte. Oder beides.
In IT-Kreisen kursiert ein Sprichwort: »Irren ist menschlich, aber um richtig Mist zu bauen, braucht man einen Computer.« Computer sind eng mit Komplexität verbunden. Sie waren ursprünglich konzipiert zur Lösung spezieller Probleme und haben sich zum Universalwerkzeug zur Beherrschung von Komplexität entwickelt. Die Automatisierung wiederkehrender Aufgaben, komplizierter Berechnungen oder einfach von Tätigkeiten mit hohem manuellem Aufwand ermöglichen Dinge, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar erschienen. Kommunikation, Logistik, unser gesamtes Wirtschafts- und Finanzsystem wären ohne sie nicht denkbar. Sie eröffnen stets neue Möglichkeiten, bislang undenkbare Herangehensweisen und erzeugen dadurch – quasi als Nebeneffekt – stets weitere Komplexität. Diese Spirale sorgt dafür, dass die Komplexität so stark anwächst, dass sie nur durch Computer kontrolliert werden kann, wenn überhaupt.
Somit hat sich Komplexität, obwohl so alt wie die Zivilisation selbst, zu dem grundlegenden Phänomen des 21. Jahrhunderts entwickelt. Ganze Wirtschaftszweige haben sich rund um den Einsatz des Computers gebildet, und die überwiegende Mehrzahl der Verwaltungstätigkeiten besteht heutzutage im Ausfüllen diverser Eingabemasken verbunden mit dem wiederkehrenden Wechselbad der Gefühle – von Unverständnis über Wut bis hin zur Resignation – wenn interne Prüfroutinen die gewünschte Eingabe mit stoischer Gelassenheit abzulehnen pflegen. Was der Computer nicht vorsieht, geht nicht. Die Sinnfrage zu stellen, erweist sich dabei als sinnlos.
Und doch ist trotz aller Widrigkeiten eine Effektivitätssteigerung gegenüber den alten Prozessen zu beobachten, bei denen der Mensch noch maßgebliches Element der Bewertung zwischen Sinn und Unsinn war. Folglich sind alle Fehler menschengemacht. Da der Mensch aber keine Fehler mehr machen soll, wird ihm systemseitig die Freiheit genommen, welche zu machen. Er ist zur Bioschnittstelle geworden, einer Übersetzungseinheit zwischen Realität und dem sich seine eigene Realität schaffenden Computersystem, oder gleich zwischen den Systemen selbst. Hand hoch, wer noch nie Inhalte von einem Programmfenster abgeschrieben und in ein anderes eingefügt hat. Hier beobachten wir zwei gegenläufige Anforderungen: Einerseits braucht es mehr Flexibilität, die aktuell nur der Mensch leisten kann, und andererseits ist genau dieser Mensch zur virtuellen Fließbandarbeit abkommandiert.
Spricht man mit den Entwicklern solcher Systeme, ob hier nicht zumindest in eine der beiden Richtungen programmtechnisch Abhilfe geschaffen werden kann, so landen wir wieder beim bekannten »Es kommt darauf an«. In diesem Fall auf die Spezifikation der Geschäftsprozesse, also der Komplexität, die dadurch entsteht, wenn ein weiterer Anwendungsfall, ein weiteres System, eine weitere Automatisierung oder eine weitere Eingriffsmöglichkeit in den bestehenden Pool der bereits existierenden digitalen Helfer integriert werden muss. Viele der gut gemeinten Verbesserungen müssen auf dem Altar der Komplexität geopfert werden, um andernorts zumindest ein paar Fortschritte zu erzielen. Priorisierung. Für den genervten Anwender auch eine gute Gelegenheit zur Übung gewaltfreier Frustrationsbewältigungs-Strategien.
Komplexität, genauer: Komplexitäts-Management, wird daher oft synonym verwendet mit Komplexitäts-Reduktion. Dem mehr oder weniger kontrollierten Abbau von Komplexität. »Historisch gewachsen« wird dabei als nettes Synonym verwendet, eigentlich will man sagen: Das ganze alte Zeug ist nicht mehr zu retten, muss weg. Das Unternehmen ist in Starrheit gefangen, steht wie der Ochs vorm Komplexitäts-Berg. Das in Prozessen, Vorgaben, Routinen, Programmcode zementierte Wissen ist veraltet, unnütz, innovationshemmend. Der Weg ist dabei nicht weit, diesen Gedanken auch auf die Wissensträger selbst ausweiten.
Und auch hier: Es kommt darauf an. Ja, viele Prozesse sind nicht mehr zeitgemäß, überladen, umfassen Redundanzen, tragen unnötigen Ballast. Bedienen weggefallene Anforderungen. Liebgewonnene Gewohnheiten statt notwendiger Effizienz. Und sie binden Arbeitskraft, die andernorts besser eingesetzt werden kann. Reduktion ist eine zentrale Strategie, um mit Komplexität umzugehen. Und dennoch zumindest in dieser plumpen Einfachheit nicht das ersehnte Allheilmittel.
Denn Komplexität selbst ist nichts Schlechtes, was um jeden Preis eingedämmt oder gar bekämpft werden muss. Ohne sie geht es nicht. So benötigen Geschichten, gleich ob in Form eines Buches, eines Filmes oder einer Erzählung, einen der Situation und des Publikums angemessenen Anspruch an Tiefe, Vielfältigkeit, Abwechslung und auch Anforderung, um nicht langweilig und vorhersehbar zu sein. Dasselbe gilt für Musik und jede andere Kunstform: Die Mischung aus Gewohntem oder Vorhersehbarem gibt uns eine bekannte Struktur an die Hand und lässt uns Orientierung finden. Dahingegen sind die wirklich interessanten Aspekte oftmals die Neuerungen, das Ungewohnte, das Unerwartete: Ein geistreiches Zitat, eine überraschende Wendung, ein geschickt integriertes Motiv – alles Beispiele einer Komplexität, die das Kunstvolle in der Kunst ausmacht.
In den Geschäftsprozessen ist es das oben so hart kritisierte historische Wissen, welches jedes Unternehmen an die Stelle gebracht hat, an der es heute steht. Es einfach über Bord zu werfen, kann heißen, den eigenen Wettbewerbsvorteil aufs Spiel zu setzen. Der eigenen Musik die Seele zu rauben und beliebig, austauschbar, unwichtig zu werden.
Komplexität zu beherrschen oder zu gestalten, heißt in erster Linie, Komplexität zuerst zu verstehen. Daher schauen wir uns im Folgenden an, was wir alles unter Komplexität zusammenfassen und welche gemeinsamen Muster wir beobachten können.